Seit dem Tod von Floyd George, einem 46-jährigen Schwarzen, herbeigeführt durch massive Gewalt eines weißen Polizisten in Minneapolis, brennen in vielen Städten der USA ganze Straßenzüge. Aus den zumeist friedlichen und selbstredend berechtigten Protesten am Tag, entwickeln sich derzeit nach Einbruch der Dunkelheit wahre Plünderungs- und Zerstörungsorgien. Über die Zahl der im Zuge dieser Aktionen verletzten und getöteten Menschen (egal ob normaler Bürger oder Polizist) ist bislang wenig bekannt.
Die internationale Medienlandschaft steht zumeist auf Seiten der „Aufständischen“, die gegen den ihrer Meinung nach institutionalisierten Rassismus in den USA protestieren, welcher sich vorrangig in der schikanösen und beleidigenden Behandlung von Angehörigen ethnischer Minderheiten durch die rund eine Million Polizisten ausdrücke. Konservative Politiker der Republikaner, allen voran der us-amerikanische Präsident Trump, hingegen rufen nach der Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ und wollen die gewaltsamen Aktionen beendet und die Verursacher hart bestraft wissen.
Soweit so normal, muss man (leider) konstatieren, denn die Ablaufmuster der „Aufstände“ im Nachhinein solcher traurigen Vorkommnisse gleichen sich bis aufs Haar. Sei es bei den Riots in England 2011 oder nach der Erschießung des Schwarzen Michael Brow in Fergusson 2014.
Eine wirkliche Analyse der zugrundeliegenden Bedingungen für das (oft gewalttätige) Verhalten der Polizei aber wird in den Medien ebenso wenig betrieben, wie eine scheuklappenfreie Diskussion über die darauffolgenden Gewaltausbrüche und die dafür Verantwortlichen. Man begnügt sich mit dem Hinweis auf den vorherrschenden Rassismus in der us-amerikanischen Gesellschaft, auf das „Öl-ins Feuer-gießen“ á la Trump und, wenn es doch mal darüber hinausgehen sollte, auf die prekären sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen unter denen viele Angehörige der ethnischen Minderheiten (jedoch nicht nur diese) in den USA ihr Dasein fristen.
Nur die wenigsten Kommentatoren hingegen bemühen einen Blick auf die Kriminalitätsstatistiken. Diese zeigen eine klare Tendenz: Die Verbrechensraten, gerade in den Bereichen Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Raub nehmen seit 30 Jahren kontinuierlich ab, nachdem diese vorher scheinbar unaufhaltsam anstiegen.
Bemüht man Mainstream-Quellen, um herauszufinden was der Hintergrund dieser Entwicklung ist (bspw. die englischsprachige wikipedia), so werden einem vielfältige Erklärung angeboten. Diese reichen von der Alterung der Gesellschaft bis zur Legalisierung der Abtreibung in den meisten Staaten der USA, wegen dieses unerwünschten Nachwuchses gar nicht erst das Licht der Welt erblickt und der dann dementsprechend auch nicht kriminell werden kann.
Worauf aber nur in den seltensten Fällen eingegangen wird, ist die „Null-Toleranz-Strategie“, die der Polizei von der Politik auferlegt wurde und welche auf der sog. Broken-Windows-Theorie beruht. Letztere besagt, dass ein Nicht-Einschreiten der Behörden bei kleineren Straftaten es zur Folge hat, dass ganze Stadtgebiete langfristig dem sozialen Verfall preisgegeben werden, sich die Menschen ins Private zurückziehen und die Kriminalität dominiert. Ist an einem Gebäude eine Scheibe eingeworfen oder anderweitig beschädigt wurden und wird diese nicht alsbald repariert, so ist es der Theorie zufolge nur eine Frage der Zeit, bis auch die restlichen zerstört werden – daher der Name.
Anfang der Neunziger, auf dem Höhepunkt der Crack-Epidemie in den Großstädten der USA, setzte dahingehend ein Umdenken in den Verwaltungen der Städte ein: die Polizei wurde massiv verstärkt (personell und ausrüstungstechnisch), Kleinstvergehen wie das Beschmieren von Wänden und Bettelei wurde verfolgt, Beamte gingen wieder zu Fuß und für alle sichtbar auf Streife und die Bevölkerung wurde angehalten, auch kleine Straftaten und Vergehen (bspw. illegale Müllablagerungen) bei den Behörden anzuzeigen. Die Justiz wurde ebenfalls ermuntert, härter zu bestrafen. Und so ist es in den USA keine Seltenheit, dass man bereits für einen erstmaligen Diebstahl mehrere Jahre ins Gefängnis wandert. Die Zahlen der Insassen (mehr als 1% der Bevölkerung ist inhaftiert) dokumentiert dieses Vorgehen nur zu gut.
Besonders effizient wurde diese Strategie vom ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani umgesetzt. Seither ist New York eine der sichersten Millionenmetroplen der Welt und wahrscheinlich die einzige westliche Großstadt, deren U-Bahn nicht mit Graffiti besprüht ist. Die „grüne Lunge der Stadt“, der Central Park war noch in den 80ern eine No-Go-Area für Frauen. Heute können diese selbst nachts bedenkenlos den Park durchqueren.
Doch die positiven Effekte der Strategie, also die Sicherheit für die Bürger und das Zurückdrängen der Kriminalität, werden mit einem hohen Preis erkauft: Kleine Delikte, die teils aus bitterster Armut und Perspektivlosigkeit begangen werden (v.a. Diebstahl, Schwarzfahren) führen zur gnadenlosen Aburteilung der Täter. Diese wiederum haben es dann als Vorbestrafte umso schwerer einen normalen Job zu finden, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Das Kleindelikt wird so oftmals zum Startschuss für eine Kriminellen-„Kariere“.
Auf der anderen Seite hat das seit Jahrzehnten harte Durchgreifen der Polizeikräfte dafür gesorgt, dass die Beamten eine Art „Wir können tun was wir wollen“-Mentalität ausprägten und persönliche Konflikte bei der Ausübung des Jobs in überzogener Härte gegen mutmaßliche Straftäter kanalisiert werden. Als bekannt wurde, dass Polizist und Opfer des Vorfalls von Minneapolis sich aller Wahrscheinlichkeit kannten, weil sie mehr als zehn Jahre zusammen als Security-Leute für den gleichen Club in der Stadt arbeiteten, hat seltsamerweise niemand gefragt, warum es ein Police Officer nötig hat, neben seiner Berufstätigkeit noch jobben gehen zu müssen.
https://people.com/crime/george-floyd-fired-police-officer-worked-same-club/
Dass die Gehälter der Staatsdiener in den USA oftmals nicht ausreichen, um ein anständiges Leben zu führen oder dem Nachwuchs eine vernünftige Ausbildung zu finanzieren, ist aber beileibe kein Geheimnis. Und jeder weiß, dass man überzogen reagiert, wenn man mit Alltagssorgen und gestresst seinen Beruf ausübt. Das entschuldigt freilich in keinster Weise die brutale Behandlung des Opfers, die zu dessen Tod führte, könnte aber jenseits undifferenzierter Rassismus-Vorwürfe vielleicht auch eine Erklärung sein.
Wie wäre es über die Beweggründe, warum die „zero-tolerance“-Strategie oftmals das Maß aller Dinge für die Kommunen in den USA wurde und ist, zu diskutieren? Einmal darüber nachzudenken, dass ein sinnentleertes Zusammenleben in einer Konkurrenz-Gesellschaft, deren einzige verbindende Elemente Warenkonsum und der Wunsch des sozialen Aufstieges der atomisierten Individuen derselbigen sind, zwangsweise eine polizeiliche Disziplinierung benötigt, weil sie ansonsten in Kriminalität und Chaos versinkt?
Auf jeden Fall machen es sich die Protestierenden und Plünderer zu einfach, jetzt alles in Schutt und Asche zu legen und das allein mit dem (durchaus vorhandenen) Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft zu begründen.
Teilen der Protestler darf man sogar eine gewisse Verlogenheit oder zumindest mangelnde Selbstreflektion unterstellen. Nicht wenige, die jetzt am lautesten brüllen, sind Teil der Mittelschicht und können sich dank der finanziellen Potenz ihrer Eltern einen Studienplatz leisten, der im „Land of the Free“ gut und gerne zehntausend Dollar und mehr pro Jahr kostet. Es sind die Abkömmlinge jener, die in den letzten Jahrzehnten wenig bis nichts dafür unternommen haben, die neoliberalen Verwerfungen irgendwie rückgängig zu machen und nach einer Alternative zu streben. Sie sind bejahende Teile des Systems, weil sie es tagtäglich bewusst reproduzieren. Und auch die Unterprivilegierten selbst haben keinen Gegenentwurf anzubieten.
Slavoj Zizek hat nach den massiven Gewaltausbrüchen mit mehreren Toten 2011 in England das geistige Dilemma der Protestbewegung folgendermaßen zusammengefasst:
„Die Protestierenden, zwar unterprivilegiert und de facto aus der Gesellschaft ausgeschlossen, lebten nicht am Rande des Hungertodes. Unter viel schlimmeren materiellen Bedingungen, ganz zu schweigen von physischer und ideologischer Unterdrückung, haben es Menschen geschafft, sich zu politischen Kräften mit klaren Zielen zu formieren. Die Tatsache, dass die Aufständischen kein Programm haben ist daher selbst ein Fakt, den es zu interpretieren gilt: Er sagt uns eine ganze Menge über unser ideologisch-philosophisches Dilemma und die Art von Gesellschaft, in der wir leben; eine Gesellschaft, die Wahlen abfeiert, in der jedoch die einzige Alternative zum aufgezwungenen demokratischen Konsens in blindem Um-sich-Schlagen besteht. Opposition zum System kann nicht mehr als realistische Alternative formuliert werden oder auch nur als utopisches Projekt, sondern nur mehr die Form eines sinnlosen Ausbruchs annehmen. Was haben wir von unserer gefeierten Wahlfreiheit, wenn die einzige Wahl darin besteht, entweder nach den Regeln mitzuspielen oder blinde (selbst-)zerstörerische Gewalt anzuwenden?
Quelle: Slavoj Zizek „Ladendiebe aller Länder vereinigt Euch!“ in: „Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011“, Laika-Verlag 2012
Dem haben wir nichts hinzuzufügen. Widerstand benötigt unbedingt ein geistiges Fundament, klare Ziele und Menschen, die sich diesen gänzlich hingeben. Spontane Reaktionen, ob nun aktionistisch/gewalttätig oder medial-populistisch ohne Aufzeigen einer Alternative, sind vergebens. Teils sogar kontraproduktiv, wenn der Staat im Zuge der Repression gegen die Gewalttätigen seine (Abwehr)Techniken zur Unterdrückung ganz real erproben und perfektionieren kann und diese dann gegen eine wirkliche revolutionäre Bewegung gezielt zum Einsatz gebracht werden können.