Alltag und Arbeitsbedingungen

Auf der Netzseite der Zeitschrift „analyse & kritik“ findet sich aktuell ein lesenswerter Beitrag des nd-Autoren Sebastian Bähr. In diesem beschreibt er das Siechtum seines 61jährigen Vaters unter den kapitalistischen Alltags- und Arbeitszwängen. Die Geschichte steht beispielhaft für jene Biografien, die nur die engsten Angehörigen verstehen, weil die Träger selbiger für die meisten in unserem hektischen Alltag nicht sichtbar sind. Es ist das stille psychische und physische Leiden von Millionen Menschen in diesem Land, ausgehend von Arbeitsverdichtung, ständiger Anpassung an neue Vorgaben, permanenter Rufbereitschaft und der immer dahinterstehenden Sorge, dass man seinen Arbeitsplatz verliert.

Am Beispiel seiner Eltern kommt der Autor ebenso auf das Versagen der Linken in Deutschland zu sprechen, auch wenn er dieses nicht so deutlich benennt, sondern eher von einer, für die arbeitende Bevölkerung „nicht greifbaren“ linken Politik schreibt.

Als Schlüsselmoment in der Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse macht er am Beispiel des Arbeitslebens seines Vaters die „Agenda 2010“ der damaligen rot-grünen Regierung aus, mit der sich das BRD-Regime Anfang der 2000er einen prekären Arbeitsmarkt schuf, der bis dahin gekannte „Annehmlichkeiten“ (Zusatzgeldleistungen, geregelte Arbeitszeiten usw.) für die Belegschaften mit einem Mal und unwiederbringlich wegradierte. Auch wenn der Autor es wissentlich unterlässt, den durch die Masseneinwanderung stattfindenden aktuellen Prekarisierungsschub zu benennen, er nicht auf die absehbaren und unmittelbaren Folgen der aktuellen Coronapolitik und des geplanten „Green New Deal“ für den „kleinen Mann“  eingeht, ist der Artikel für eine moderne linke Publikation dennoch beachtenswert.

Warum? Weil tatsächlich der Fokus wieder mal auf die normalen, durchschnittlichen Menschen gerichtet wird. Weil er ahnen lässt, dass hinter der Abwendung der arbeitenden Bevölkerung von linken Organisationen und Themen vielleicht mehr steckt, als tief in den Menschen sitzende „antiemanzipatorische“ Ressentiments und sie nur deswegen (zumindest im Osten) die AfD zur stärksten Partei der Angestellten, Arbeiter und kleinen Selbständigen macht.

Es handelt sich bei dem Text demzufolge nur oberflächlich um eine lesenswerte Situationsbeschreibung der ausgebeuteten Werktätigen, als vielmehr um den zaghaften Versuch in etablierten linken Medien (wie der analyse & kritik) einer linken Selbstkritik publizistischen Raum zu ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass daraus mehr wird und ein Besinnen auf die wirklichen Themen des kapitalistischen Alltags jenseits abgehobener Randgruppendebatten beginnt. Denn: das Subjekt des politischen Handelns, das Volk, leidet.

Wie das familiär aufgenommen wird und welche Auswirkungen das auf den Einzelnen hat, zeigt der Text: „All die guten Bücher helfen mir hier nicht weiter“ von Sebastian Bähr.

Hier geht es zum erwähnten Artikel:

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