Durchquert man als Fremder die Zeiss-Stadt an der Saale könnte man meinen, hier ist alles irgendwie auf dem richtigen Weg. Im Gegensatz zur ostdeutschen Provinz sieht man viele junge Leute auf der Straße, sind die Spielplätze mit Kindern jeglichen Alters gut gefüllt und wirtschaftlich scheint es den Medienberichten zufolge ja auch aufwärts zu gehen. Die Rede ist heutzutage vom „München an der Saale“, nachdem man die letzten Jahrzehnte vom ostdeutschen „Leuchtturm“ sprach.
Hinter der Fassade aber, die auch mit teuren Werbekampagnen der Stadtverwaltung erkauft und aufrechterhalten wird (u.a. Plakataktion und Medienkampagne „Work in Jena“), offenbart sich hingegen ein anderes Bild: exorbitant gestiegene Mieten, die die normalarbeitende Bevölkerung zum Wegzug aus dem Stadtzentrum zwang, fehlende (nichtkommerzielle) Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten für Jugendliche und junge Erwachsene, Alterseinsamkeit in den Neubaugebieten.
Nun sind das freilich keine Probleme, die es nur in der Universitätsstadt Jena gibt, sondern diese sind annähernd überall in Deutschland zu finden. Was der kapitalistischen Verwertungslogik nicht zuträglich ist, fällt eben hinten runter, könnte man zu Recht meinen. Und doch ist es in Jena ein spezieller und erwähnenswerter Fall. Denn hier wähnt sich die „woke“ Mittelschicht der Ruccola- und Smoothie-Kieze (Götz Eisenberg) bekanntlich auf der Gewinnerseite des Lebens, blickt demonstrativ verächtlich auf die umliegenden Gebiete und gibt sich besonders divers, zukunftszugewandt und kinderfreundlich.
An der Realität jedoch scheitert dieses Selbstverständnis. An den Gymnasien gibt es immer mehr junge Menschen, die in ihrer Freizeit psychosoziale Betreuung in Anspruch nehmen, nicht zuletzt wegen der Leistungsanforderungen durch die eigenen Eltern. Erst letztes Jahr nahm sich ein junges Mädchen am Angergymnasium in Jena-Ost mittels Gas das Leben, weswegen genau wurde zwar nicht mitgeteilt, aber Suizid lässt immer auf massive Unzufriedenheit mit oder Leere im eigenen Leben schließen.
Entgegen dem eigenen Anspruch, den öffentlichen Personennahverkehr als das Fortbewegungsmittel der Zukunft zu etablieren, wurden unlängst die Fahrpreise für Bus und Bahnen erhöht. Für Kinder und Jugendliche.
Mit großem Tamtam teilte man mit, dass nach den Entbehrungen der Corona-Zeit Kinder bis 14 Jahre kostenfrei die beiden örtlichen Freibäder aufsuchen können. Was medial unterschlagen wurde, sind die massiven Erhöhungen der Preise für begleitende Erwachsene (aktuell, 4,00 € und bei den meisten unter 14 jährigen die Regel) und die merkliche Anhebung der Imbisspreise.
Dass es in den großen Neubaugebieten wenig bis keine Freizeitmöglichkeiten für Alt und Jung gibt, muss nicht extra erwähnt werden. Man konzentriert sich auf das laute und medial bestens aufgestellte Publikum zugereister Studenten, pardon: Studierender oder Studierenden, wie auch immer…
Auch was die heimische Wirtschaft fernab hochgepushter „Startups“ betrifft, zeigt sich Jena von seiner heuchlerischen Seite. Im vergangenen Monat beschloss der Stadtrat mit der Stimmenmehrheit von SPD, Linke und Grüne eine neue Vergaberichtlinie für städtische Aufträge. Die Firmen müssen nun nachweisen, dass sie geschlechtergerecht aufgestellt sind und allerlei Standards einhalten. Dass allein die Bearbeitung dieser Nachweise personelle und zeitliche Ressourcen in Anspruch nimmt, die sich kleine Firmen gar nicht leisten können, ist den meist staatlich angestellten Damen und Herren freilich nicht bewusst.
Doch was sagt uns das nun alles? Klar ist, keine Kommune kann sich aktuell dem marktwirtschaftlichen Rentabilitätsprinzip entziehen, aber dann so zu tun, als ob das eben möglich wäre, ist nichts anderes als pure Verarsche. Die umliegenden Dörfer und Kleinstädte täten gut daran ein Selbstbewusstsein jenseits des neidischen Blickes auf die Saalemetropole zu entwickeln und sich ihrer Stärken zu erinnern und diese auszubauen: intakte Gemeinschaften, Traditionsbewusstsein, kulturelle Eigenheiten und ein solidarisches Miteinander statt Anonymität, gespielter Mitmenschlichkeit und Minderheitenpolitik, die letztlich nur dem Ego und dem persönlichen „Standing“ dient.